Für heute, mein Freund, ist es gut.

Es gibt eine kleine Geschichte aus dem Herbst 2017, die meinen Lieblingskollegen Christoph ganz gut charakterisiert.

Wir hatten eine Woche gemeinsam wie die Blöden recherchiert und waren eigentlich nur zum Schlafen nach Hause gefahren. Geschlafen haben wir nicht viel. Wir waren in einem Tunnel, es gab nur noch diese Geschichte und sonst nichts.
Spätabends, wenn wir auf dem Heimweg waren, schrieb Christoph dann weiter Mails oder Nachrichten und ich schrieb ihm dann irgendwann immer eine letzte Nachricht. Die zwei Sätze, die auch mein ältester Sohn häufig zum Einschlafen hört: „Für heute, mein Freund, ist es gut. Morgen geht es weiter.“

Jeder Tunnel hat irgendwann ein Ende, dieser hier endete an einem Montagabend. Die Geschichte war geschrieben, es war spät, sie war in den Druck gegangen. In solchen Momenten, wenn eine wichtige Geschichte ihr erstes Ende gefunden hat, lasse ich sie los. Das ist schwer zu beschreiben, aber mir kommt es vor, als hebe ich nach längerer Zeit mal wieder den Kopf und schaue mich um. Oft passiert das nicht, wie viele Geschichten sind schon wirklich wichtig – aber hier war es so.

Wir quatschten noch ein wenig, liefen dann zum Bahnhof, verabschiedeten uns und stiegen in unterschiedliche Züge. Er fuhr nach Norden, ich nach Süden. Ich lies los, er nicht, wie ich heute weiß. Er sprang, als die Zugtüren piepten, noch gerade rechtzeitig aus seinem Zug und rannte zurück in die Redaktion. Telefonierte, holte die Ausgabe zurück, die eigentlich gerade angedruckt werden sollte, änderte eine Zahl und gab sie dann wieder frei. Es war eine kleine Zahl, sie hätte unsere Geschichte nicht zerstört, sie wäre maximal für uns ärgerlich gewesen und nur Rechenfüchsen aufgefallen. Aber sie wäre falsch gewesen.

Ihm war es aufgefallen. Und viele, die ich kenne, hätten sich im Zug ein Bier aufgemacht, „Ja mei, ist halt so“ gedacht und die Sache vergessen. Er nicht.
Der Kollege, von dem ich hier schreibe, heißt Christoph Klemp. Er ist der beste Rechercheur, mit dem ich bis heute zusammengearbeitet habe. Ein detailverliebter Frickler, der weiß, was er tut, sich nicht im Klein-klein verliert und der die richtigen Fragen stellt.

Es macht mich wirklich fertig, wenn ich das aufschreibe, aber in wenigen Tagen, Ende März 2019, sind wir keine Kollegen mehr. Christoph geht seinen Weg woanders weiter.
Wenn ich aber einen Rechercheur bräuchte, einen, auf den ich mich verlassen kann, der bohrt und klopft und sich in Themen reinfressen und sie dann weiterdenken kann und dabei nicht loslässt, dann wüsste ich, wenn ich fragen würde.
Für heute, mein Freund, ist es gut. Morgen geht es weiter.
Du wirst mir hier fehlen.
Danke für alles.

(Die Geschichte, um die es damals ging, war die Zwangsräumung des Hannibals in Dortmund im September 2017. Wir haben für diese Geschichte später den Ernst-Schneider-Preis in Nürnberg verliehen bekommen.)

klempkemper

War schön in Nürnberg.

Wer die Geschichte nachlesen will, findet sie hier:
https://ruhrnachrichten.atavist.com/schacht-matt-im-hannibal
Eine andere, die wir gemeinsam machen konnten, war diese hier:
https://ruhrnachrichten.atavist.com/die-gruppe-um-anis-amri-in-dortmund

Wenn sie ruhig sind, ist alles in Ordnung – eine Hirtengeschichte

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Max, vorne links im Bild, weiß, wie es läuft. Ihm folgen Christof May, dessen Schafe und Chester. Chester, im Bild ein bisschen schwer zu erkennen, steht zu Füßen von May.

Die Menschen begannen, Tiere zu halten, um einen Nutzen von ihnen zu haben. Das ist fast vergessen worden. Darauf kann kommen, wer mit Christof May und einer Herde Schafe durch Dortmund läuft. Eine Hirtengeschichte.

Die Stimme passt nicht zu dem Mann. Wenn man Christof May brüllen hört, wird er ganz klein. Er ist gar nicht so klein. Nur ist seine Stimme im Vergleich so groß. May brüllt viel. Die Schotten (nicht die Inuit) haben 421 Worte für Schnee, May hat eine Art, um zu brüllen: Richtig, richtig laut.
„MAX“, brüllt May. Max, ein altdeutscher Hütehund im Farbton „Harzer Fuchs“, ist unruhig. 250 Schafe, so Pi mal Daumen, stehen zusammen, gleich geht es los. Sechseinhalb Kilometer durch Dortmund, über Wege und Straßen, über Brücken drüber und unter Brücken her. Durch den Indupark und weiter.

Max will los. Doch es geht noch nicht los. Eine Herde wie diese braucht neben May drei Helfer und ein Begleitfahrzeug. Kann ja immer was passieren, die Straßen sind glatt. Sollte ein Schaf ausrutschen oder müde werden, kommt es in den Anhänger des Fahrzeugs.

May, eine hagerer Mann mit wachen Augen, hat im linken Ohr ein Schaf als Ohrstecker. „Nur im Winter, im Sommer steckt da eine kleine Schermaschine.“ Was hübsch, aber letztlich nicht ganz korrekt ist, denn Schafe scheren, das machen die Profis: Neuseeländer. Neuseeland und Schafscherer muss man sich so vorstellen wie die USA und Basketballer – es gibt keine besseren.
In Neuseeland kommen sechs Schafe auf einen Einwohner, irgendwer muss sie scheren, und die Jungs, die das tun, muss man sich wie eine große Gruppe Edwards mit den Scherenhänden vorstellen. Nur mit dickeren Oberarmen und mehr Farbe im Gesicht.

In Dortmund kommen 0,005 Schafe auf einen Einwohner. Oder andersherum: Knapp 200 Menschen auf ein Schaf. Und so kommt es, dass sich zu Beginn der Schafschur Neuseeländer mit ihren Scher-Händen in den Flieger setzen, um durch Europa zu reisen und den Schafen ihre Wolle abzunehmen.
Heute brauchen die Schafe sie noch, es sind leichte Minusgrade oben am Airwin, dem Windrad mit dem vermutlich beklopptesten Namen, den ein Windrad je hatte. Wenn Schäfer May anfängt, von Wolle zu sprechen, dann wird diese raue Stimme fast warm. Ein fantastisches Naturprodukt sei das. Als Pullover, na klar, das auch, aber auch als Medizin. Wenn die Wolle frisch und nicht gewaschen ist, habe sie einen hohen Lanolin-Anteil, der wiederum eine heilsame Wirkung bei Wunden habe.

Doch das Wissen darum scheint ähnlich viel wert zu sein wie die Wolle: immer weniger. 2015, sagt May, habe es für das Kilo Wolle, frisch vom Schaf, einen Euro gegeben. 2016 60 Cent, im Moment wird May das Kilo für 20 Cent abgenommen. Das liege, so May weiter, daran, dass Wolle größtenteils nach China gehe und die dortigen Lager im Moment voll seien. Angebot und Nachfrage, der große Weltmarkt und ein kleiner Schäfer.
Alles hängt mit allem zusammen und sorgt jetzt dafür, dass die Wolle der Schafe ein Minusgeschäft für den Schäfer werden. Ein Schaf gibt rund dreieinhalb Kilo Wolle pro Schur. 70 Cent pro Schaf und 2,50 Euro für den neuseeländischen Scherer. Dass es sich dennoch lohnt, mit den Schafen durch Dortmund zu tingeln, liegt an der Stadt: Sie bezahlt May für festgelegte Flächen, auf denen er seine Schafe weiden lässt. Naturnahe Flächen und Naturschutzflächen werden von den Schafen abgegrast, gedüngt und aufgelockert. Da kann kein Rasenmäher mithalten. Zusammen mit dem Verkauf von Fleisch – „die Lämmer sind am meisten wert“ – sorgt dieses Geld dafür, dass May „überleben“ kann, wie er sagt.

Die Herde steht ruhig in einer kleinen Senke. „Das ist mein Ruhepol“, sagt May. „Ein Teil von etwas zu sein.“ Der Schäfer und seine Herde. Acht Tiere, May zeigt auf sie, sie stehen am Rand, kaum merklich, es fällt erst auf, als May auf sie zeigt. Sie sind frisch dazugekommen, haben noch keine Tour mitgemacht und könnten also Probleme machen. Wenn nur ein Tier frisch dabei wäre, würde es sich sofort der Herde anpassen. Acht Schafe bilden erst mal eine Gruppe, da weiß man nicht so genau, wie es mit ihnen laufen wird. Schafe und Menschen, es scheint Parallelen zu geben. Nur haben Schafe schönere Augen.

Als sich die Tiere in Bewegung setzen, begleiten sie drei Menschen: Vorne May, in der Mitte eine Bekannte und hinten läuft Volker. Zusammen mit Lilly. Ein Schafpudel, auch eine altdeutsche Hütehunderasse. Und da Volker einen solchen Hund hat, geht er mit, angewandter Hundesport für Hund und Herrchen.
„FOOOLKAA“, brüllt May in einer Tonlage, die im Mittelalter bei jeder Schlacht als amtliche Ansage durchgegangen wäre, „FOOOLKAA, DRÜCK NICH SO!“ Es ist weniger Volker, der hinten drückt, es ist Lilly. Aber wer drückt, ist letztlich egal. Die Schafe hinten werden zu schnell, der Feldweg ist zu schmal, die Tiere knubbeln und drängen sich. May zieht vorne ein bisschen das Tempo an, Volker wird hinten langsamer, die Herde bekommt wieder die Form, die sie hier haben soll: Eine lang gezogene Kette an Schafen.

Es geht den Weg entlang, als wie aus dem Nichts ein Golden-Retriever auftaucht und freudig erregt durch den Schnee auf die Herde zuspringt. „EEEEYYY, HALT DEINEN HUND FEST.“ Diesen Hund muss niemand mehr festhalten, er läuft sofort wieder zurück. „Jaja, der will nur spielen. Aber nicht mit meinen Tieren“, brummelt May vor sich hin.
In Mays Hirtenkosmos gibt es neben dem Wollpreisverfall weitere fünf Probleme: Ungeduldige Autofahrer, freilaufende Hunde, falsch verstandene Tierliebe, die Blauzungenkrankheit und das Schmallenbergvirus und moderne Architektur. In dieser Reihenfolge.

Früher war ein Fenster ja ein Fenster, heute geht es um raumflutendes Lichtdesign. Was sich in bodentiefen Fenstern widerspiegelt, in denen sich wiederum die Schafe widerspiegeln. Ein Schaf ist kein dummes Tier, aber wenn es eine Herde sieht, läuft es dahin. Aber eine Herde muss zusammenbleiben.
May wandert fast nur sonntags mit seinen Schafen, da ist auf den Straßen weniger los. Unten, an der großen Kreuzung, zwischen A 40 und Indupark, bekommt man eine Idee, warum das eine vernünftige Entscheidung ist. Die paar Wagen, die unterwegs sind, fahren rechts ran. Und fast in jedem Auto auf dem gesamten Weg werden die Handys gezückt, es wird gefilmt oder fotografiert. May und seine Tiere sind irgendwie aus der Zeit gefallen. Wo sie auftauchen, fallen sie auf.

Ihre Wege müssen sie sich suchen. Dass Tiere einen Nutzen haben, der darüber hinausgeht, zu unterhalten, das wird bestaunt, wenn May seiner Wege kommt. Dampf steigt über der laufenden Herde auf, die Tiere sind warm, sie laufen und werden fast unmerklich ein kleines bisschen schneller, als sie nach sechseinhalb Kilometern eine Weide wiedererkennen, die sie schon einmal abgegrast haben.
Die Schafe ziehen auf die Wiese, May und seine Helfer stellen Zäune auf, eine Woche werden die Tiere hier bleiben. May schließt den Strom an den Zaun, später wird er noch einen oder zwei Herdenschutzhunde in die Herde setzen. Große Tiere, die in einer Schafherde geboren wurden, sich selber vermutlich für ein Schaf halten, aber auf alle Fälle die Tiere verteidigen. Ihre Vorfahren in den Pyrenäen gegen Wölfe, die Hunde heute gegen Menschen. 2005 haben sie May mal ein Schaf erschlagen, einfach so. Er fing mit den Hunden an, inzwischen züchtet er sie selber.

Jetzt ist das alles kein Thema, die Tiere weiden. Das Rascheln von Schnee ist zu hören, sonst ist Ruhe. „Das ist das Schönste“, sagt May. „Wenn man die Herde nicht hört, weiß man, alles ist in Ordnung.“ Noch so eine schöne Grundsätzlichkeit.

Im Wald

Im Wald, da sind die Räuber.
Im Wald steht man, wenn man Dinge nicht versteht.
Und manchmal steht man im Wald, weil man Dinge nicht verstehen soll.
Gut möglich, dass dort Räuber herumstreunen.
Mit dem geschätzten Kollegen und Reisebegleiter Christoph Klemp stand ich vor einigen Wochen in so einem Wald. Vor dem Hannibal II in Dortmund-Dorstfeld.

Vor dem Hannibal

753 Menschen verloren von jetzt auf gleich ihre Wohnungen.
Hier haben wir die Geschichte dieser Menschen aufgeschrieben:
https://ruhrnachrichten.atavist.com/schacht-matt-im-hannibal

Adrenalin statt Adorno

Früher war nicht alles besser, früher war einfach früher und ist einfach länger her. Wobei dann die Gefahr besteht, dass das, was war, vergessen wird. Es sei denn, die Menschen waren selbst dabei. Wie die Jungs vom James-Dean-Fanclub, der sich 1963 in Dortmund gründete. Auch schon lange her, die Jungs von damals werden weniger. Aber manchmal kommen sie noch zusammen, und wer ihnen zuhört, reist zurück in die Halbstarkenwelt der Dortmunder Nachkriegsjugend. Mit Betonung auf dem Krieg.

Gruppenfoto ohne Dame

Blaue Kreuze auf altem Fotopapier: Es sind nicht mehr alle da. Und einige schon im Altenheim.

Hase hatte angerufen, ein paar Tage her schon, er gab Folgendes durch: Der James-Dean-Fanclub-Dortmund, der löst sich auf. Seit den 60er-Jahren gebe es den und am Sonntag, da träfen sie sich nochmal, ob man da nicht vorbeikommen wolle? Kleiststraße, Zum Nordlicht, 15 Uhr. Später am Nachmittag, Geschichten werden erzählt und Fotos gezeigt, nur von Auflösungserscheinungen keine Spur.

Was zu der Frage führt: „Hier löst sich doch nix auf, oder?“
„Ne, wer sacht dat denn?“

„Na, der Hase.“

„Ach der Hase, der wusste schon immer, wie’s geht und was er erzählen muss. Weißte, warum der Hase heißt?“

„Erzähl.“

„Na, der hoppelt von Loch zu Loch. Verstehse?“

Erinnerungen sind ein wackliges Terrain. Was mal war, verändert sich im Laufe der Zeit. Also, es ist schon geschehen, was geschehen ist, aber die Perspektive darauf verändert sich mit der Zeit. Ob zum Guten oder zum Schlechten, ist nur eine Frage des Standpunkts, an dem man steht, wenn man sich an eine Sache erinnert, die mal geschehen ist. Was ist geschehen?

1962, schwören Hase und Bennie, die im richtigen Leben Uwe und Bernd heißen, gründete sich in Dortmund ein James-Dean-Fanclub. Das war 1959, sagt jemand anders, aber Fakt ist, dass es diesen Club gab. Einig sind sich dann wieder alle, dass der „King“ ihn gegründet hat, der eigentlich Hartmut hieß und jetzt auch schon länger tot ist. 20 Mann seien sie gewesen, können am Anfang auch 15 gewesen sein und wenn man ihnen einen Namen geben wollte, dann müsste man sich des aus der Mode gekommenen Begriffs der Halbstarken bedienen. Nordstadt also, 1962 oder 1959, auf jeden Fall an einer Hofeinfahrt in der Schlosserstraße, genervt vom Mief des Wirtschaftswunderlandes, ein tragbarer Plattenspieler und viel Langeweile und daraus die Idee, einen James-Dean-Fanclub zu gründen.
Dean, wer sonst?
Gut, war jetzt schon seit 1955 tot, aber es sterben nur die Besten jung, was sich alleine damit beweisen lässt, dass er bis heute als der Rebell gilt, der der Unzufriedenheit und Leere der Nachkriegsjugend ein Gesicht und eine Uniform (weißes T-Shirt und Jeans) gab.

Vor der Kneipe

Statussymbol Kreidler Florett. Vom Werk aus hat sie 50 Kubik, man konnte aber noch ein wenig mehr rausholen.

Auf der Kreidler Florett durch die Stadt, die 50 Kubik auf 70, 75 Kubik hochgejazzt, möglichst rebellisch. Eine Stammkneipe gab es an der Kaiserstraße, „Hermeling“ soll sie geheißen haben. Ansonsten da hin, wo was los war. Viel war das nicht, also immer auf die Kirmes. „Die Kirmes, die haben wir ja damals beherrscht.“ Mutproben auf der Raupe, den Max machen und dabei „Tiger“, „Büffel“ oder „Stiefel“ gerufen werden. Dann von der Kirmes in Hombruch weiter brausen in eine Kneipe nach Marten, drei Leute am Tresen, 20 Halbstarke im Anmarsch, Rocker sein, Rebell sein, den Lauten machen, was sonst? Dann flog die Tür auf, die zum Veranstaltungssaal in der Kneipe führte, da hatte die Landesvereinigung der Ringer ihr Jahrestreffen. Da hatte es sich mit Rebellion zügig erledigt, „wir sind gerannt um unser Leben“.
Stiefel ist ja nu auch schon länger tot, aber damals trug er immer Stiefel bis zu den Knien. Bademeister lebt noch, den nannten sie so, weil sie ihn irgendwo bei Haltern in einen mit Wasser gefüllten Bombenkrater warfen. Muss schlimm gewesen sein, Bademeister konnte nicht schwimmen, kam aber wieder raus und ab da hieß er halt Bademeister. Heißt so noch heute. Wo Glatzen-Günna und Zi- geuner-Ötte abgeblieben sind, lässt sich heute nicht mehr klären.

Aber sie waren wahrscheinlich mit dabei damals, auch bei der Hamburgfahrt 1963. Starclub, drei Mark Eintritt und eine Flasche Bier dazu. Die Beatles auf der Bühne, She loves me, YEAH, YEAH, YEAH, anschließend der Bummel über die Reeperbahn. Sieht ja heute auch anders aus, die Reeperbahn, aber damals war da dieser alte Tätowierer. Hinterher hatten 17 Mann ein Tattoo für jeweils 20 Mark. Machete, von einer Schlange umschlungen, darüber James Dean Club, darunter Dortmund. Wilde Freiheit, auch wenn Kelly damals geheult hat, als er es bekam. Dafür hat er es heute noch. Als einer von zweien an diesem Sonntag in der Kleiststraße. Heute, ja heute ist ja der eine Rarität, der kein Tattoo hat, aber damals, im 1960er-Jahre-Deutschland, da machte ein Tattoo echte Probleme. Wer Tinte unter der Haut hatte, war ein Knacki, sowas gab Stress im Beruf. Und von den 17 haben dann viele schnell zugesehen, ihre Tätowierung wieder loszuwerden. Mit mehr oder weniger gutem Ergebnis. Bei Hase sieht man fast nichts mehr, war ja klar, der wusste ja schon immer, wie es geht. Ein anderer sah dann eine Reklame im Schaufenster: „Sichere Selbstentfernung.“ Hat sich also die Flasche Selbstentferner auf den Arm gekippt, „der Arm war dann doppelt so dick und das hat gebrannt wie nur was.“ Der Erfolg war so semi.

Dean 1

Wir waren zwei Tattoos. Gestochen 1963 auf der Reeperbahn.

„Rausgeätzt heißt das“, sagt Hansi, der hieß schon von Hause aus so und brauchte keinen Spitznamen. Hansi hat kein Tattoo auf dem Arm, aber eine Kette um den Hals, daran eine Patrone. War auch ein Symbol des Clubs.

Die Patronen gab es bei den Briten, gab ja viele damals in Dortmund. Aufgewachsen in der besetzten Zone, Nachkriegszeit mit Betonung auf dem Krieg. Es gibt ein Gruppenfoto, da steht die Horde auf irgendeinem Truppenübungsplatz, alles lacht und feixt und einer, in der Mitte vorne, hält eine Fliegerbombe, vermutlich entschärft, mit beiden Händen. So, als hätte er einen dicken Fisch im Arm. Ein anderer, weiter hinten, ein langer Kerl, wedelt mit einer Wurfhandgranate. Vielleicht auch ein Mörsergeschoss, auf jeden Fall gebaut, um zu zerstören.
Nachkriegszeit, Nachkriegsdevotionalienzeit, wie die Wehrmachtsuniform, in der einer posiert, mit Hakenkreuz und dem ganzen Rotz. War halt so, gab es alles noch, Reiz des Verbotenen.

„…denn sie wissen nicht, was sie tun“. Der Original-Titel ist griffiger, „Rebel with- out a Cause“, Rebell ohne Anlass. 1955 uraufgeführt, einen Monat nach dem Unfalltod von James Dean. Eine Filmikone, Projektionsfläche für die Jugend im amerikanischen Einflussbereich, auch in Dortmund. Meta ist 70, Kugelkette um den Hals, so eine Art Mutter der Kompanie, und sie sagt: „Wir mochten seine Art und Weise.“ Schweigt kurz und sagt dann: „Wie er war, so wollten wir auch sein.“ Oder so, wie sie dachten, dass er war.

Auf die Mütze gab es häufiger, was wiederum die Polizei auf den Plan rief, Anzeigen wegen Körperverletzung, Landfriedensbruch und Rudelbildung. Oder auch mal Kurzzeitaufenthalte im Gefängnis, womit die Tattoos doch noch ihre Berechtigung hatten. Das kann man alles schlimm finden, fanden damals bestimmt auch viele, vor allem die Eltern, aber vielleicht muss man so etwas anders denken: Wie soll man denn halb provozieren? Oder halb ausbrechen? Halb schwanger geht ja auch nicht. Arbeiterjugend waren sie alle mal, die sich am Sonntag treffen, und da wollten sie raus, wenn auch nur für einen Moment. Mit Adrenalin statt Adorno und ner Schelle auf`s Maul statt Sartre, Jean Paul.

Zeitungsartikel gibt es aus der Zeit: „Die Flucht endete im Hospital“, „Wyatt Earp vor Gericht“, und dann später „Der Präsident lädt zum Kaffee ein“. Da hatten der damalige Polizeipräsident Riwotzki und Oberbürgermeister Keuning den „King“ eingeladen, nachdem der sich brieflich entschuldigt hatte, „weil sich an dem Mopedfahrerauflauf am Freitag vergangener Woche auch einige Mitglieder seines Clubs beteiligt hatten.“ Das Gespräch war wohl gut, denn „nach der Unterredung entschloss sich der Polizeipräsident in gleicher Weise, einmal mit den Vorsitzenden aller ,Fan-Clubs‘ zu sprechen. So werden nun Vertreter des ,Brigitte-Bardot-Clubs‘, der ,Schwarzen Panther‘, die ,Mickey-Mäuse‘, des ,Ted-Herold-Clubs‘, des ,Freddy-Clubs‘, des ,Angèle-Durand-Komitees‘ und wie sie noch alle heißen (eingeladen), morgen bei einer Tasse Kaffee im Polizeipräsidium einzufinden.“ So stand das damals, was es nicht alles mal gab, Wort für Wort in der Zeitung. Waren damals eh ein großes Thema, die Jugendkrawalle, die sich oft eruptiv entluden, weil die Jugend sich ihren Freiraum auf den Straßen suchte. Nicht nur in Dortmund waren, wenn man so will, die Halbstarken die Vorläufer der 1968er.

Die „Schwarzen Panther“ aus Husen und der „MSC Hombruch“, das waren damals die Gegner, erzählen sie am Tresen vom Nordlicht, wo das Pils noch in Thier-Gläsern ausgeschenkt wird. Aus dem Gewemse von Halbstarken damals wird heute der heroische Kampf, Mann gegen Mann. Wenn da etwas gut dran war, und da sind sich dann alle wieder einig, dann, dass es damals so etwas wie Regeln gab: Wenn einer lag, dann lag er, dann war auch gut. Dass es damals regelmäßig Stress gab, davon zeugt ein Schreiben des Oberstadtdirektors vom 8. Dezember 1965, gerichtet an die Mitglieder des James-Dean-Clubs und des MSC Hombruch: „Aufgrund zahlreicher Zwischenfälle sind wir leider gezwungen, allen Mitgliedern und Anhängern der oben genannten Clubs das Betreten des Fritz-Henßler-Hauses und des Jugendkafes zu untersagen. Wir weisen ausdrücklich darauf hin, daß die Nichtbeachtung dieser Auflage eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch nach sich zieht.“

Post vom Amt

Ein Fall für den Oberstadtdirektor: Die Jungs vom James-Dean-Club und vom MSC Hombruch. Auf Papier vereint, auf der Straße verfeindet.

Dann eben woanders hin, Holland ist ja nicht weit, der erste Auslandsaufenthalt, weitere folgten, der Grund war ein naheliegender: „Die Freiheiten der holländischen Mädels war ja viel größer, so von der Sexualität her – eigentlich sind wir ja nur deswegen dahin gefahren.“ Ob die Erinnerung jetzt so ist, wie sie war, oder so, wie man sie gerne gehabt hätte – wer weiß das außer denen, die da waren? Alte Geschichten von alten Jungs, die am Tresen stehen oder sitzen, geraucht wird heute wenig und auch Bier wird nur in Maßen getrunken. Mit 70 und darüber weiß man die kleinen Freuden zu schätzen.
„Lebt der Samba eigentlich noch?“ „Nee, ist auch schon lange tot.“

Wie viele andere. Auf einem schwarz-weißen Gruppenfoto blaue Kugelschreiberkreuze über denen, die nicht mehr sind. Andere inzwischen im Altenheim. Einer ist von da gekommen, mit Rollator und Tochter. Dort ein Rentner unter vielen, hier ne Nummer.
„Sag mal Hase, was hast du denn da am Telefon erzählt von wegen Auflösung? Die sagen alle, das wär Quatsch.“
„Naja, du glaubst doch nicht, dass wir noch mal so zusammenkommen.“
Nein, so nicht. Aber anders. Anfang Oktober treffen sie sich wieder. Alte Jungs, die sich von damals erzählen. Ja klar, war auch viel Mist dabei. Aber auch eine Menge Gutes. So ist das im Leben. Aber die, die dabei waren und heute noch leben, können sich davon erzählen und müssen sich dabei nichts mehr erklären.
Giganten. Rebellen ohne Anlass. Auflehnung als Teil einer Geschichte, die sie selber machten. Immerhin das.

Gruppenfoto mit Damen

Was vom Dean-Club übrig bleibt: Menschen, die ihr Leben gelebt haben. Aufgenommen am 30 Juli 2017

So wie sie leben, schmecken sie auch

haso

(Lokaljournalisten hören, wenn sie ihren Beruf erwähnen, häufig die Erwiderung, sie seien doch die, die über Kaninchenzüchter schreiben würden. Ich habe das noch nie getan. Warum, weiß ich gar nicht genau, es hat sich irgendwie nie ergeben. Aber machen wollte ich das eigentlich schon immer mal. Inzwischen wird die Zeit knapp, Kaninchenzüchter gibt es immer weniger. Man stellt das fest, wenn man veraltete Adresslisten im Internet abtelefoniert. Letztlich habe ich Peter Siebert erreicht. Er sagte, ich solle doch einfach vorbeikommen, er kenne das schon, die Südwestzeitung habe auch schon mal über ihn geschrieben.

Siebert meinte tatsächlich die Süddeutsche Zeitung, der Kollege Holger Gertz hatte ihn mal besucht. Gertz ist eine Granate, ich lese ihn immer sehr gerne, aber den Text über Siebert habe ich mir gespart. Ich wollte vor dem eigenen Schreiben nicht die eigene Unzulänglichkeit aufgezeigt bekommen.)

So wie sie leben, schmecken sie auch

Hobbymäßig hat Peter Siebert, der laut Pass 71 Jahre alt ist, aber im Auftritt und Beweglichkeit an einen frischen 60-Jährigen erinnert, seinen eigenen Pfad der Glückseligkeit im Alter von zehn Jahren gefunden und ist ihm seitdem treu geblieben. „Das ist“, sagt er irgendwann im Gespräch, „einfach das beste Hobby, das man erreichen kann.“ Wenn Siebert abends in seinen Stall geht, die Tiere nach vorne kommen, er ihnen zusieht, wie sie sich bewegen, dazu dann ein Fläschchen Bier für den Kaninchenvater, „das ist Entspannung. Pure Entspannung.“

 

Siebert ist seiner Liebe zu Kaninchen über all die Jahre treu geblieben, er hat, wenn man so will, nur irgendwann den Partner gewechselt. Schwarzloh hieß die erste Art, 40 Jahre haben sie zusammengehalten und wer Siebert in seinem Zechenhaus in Dorstfeld zuhört, hört heraus, wie da immer noch Zuneigung zu dieser Rasse in seiner Stimme mitschwingt. Fell und Körperbau, das sind grundsätzlich wichtige Kriterien, beim Schwarzloh ist weiter zu achten auf die Kinnbacken- und die Naseneinfassung, darüber hinaus auf die hübschen Augenringe, die nicht aus faltiger Haut, sondern lediglich aus einer hübschen Fellfarbe bestehen. Und das Fell im Nacken der dunklen Tiere hat heller zu sein, wobei auch die Form dieses Farbkleckses wichtig ist. Löffelförmig sollte er sein. Das Problem beim Schwarzloh ist, sagt Siebert, dass bei der Rasse einerseits zu viel Inzucht dabei war und andererseits die Häsinnen sich teilweise sehr schlecht decken lassen.

Aber das ist Vergangenheit, Blausilber heißt die aktuell gut 30-fache Gegenwart, die hinter dem Siebertschen Haus im Stall herumhoppelt. Inzucht gibt es da nicht, das Decken klappt problemlos und eigentlich fand Siebert die Blausilbernen schon immer schön. Sie waren früher halt nur schwer zu bekommen. 1998 dann hatte er welche und jetzt begeistert er sich eben für die Silberung der Tiere, die gleichmäßig vom Kopf bis zur Blume zu verlaufen hat, wobei das Problem hier ist, dass die Haare im Kopfbereich etwas kürzer sind und dadurch dunkler wirken, denn das Silbrige, das rührt daher, dass die Fellspitzen nach wenigen Wochen oder Monaten weiß-silbern werden. Die Jungtiere sind blaugrau und so setzt sich ihr Name zusammen. Weiter, nur der Vollständigkeit halber: Wenn ein Blausilber steht, muss er eine Bodenfreiheit zwischen Vorderbeinen und Brustkorb haben, durch die man hindurchgucken kann. Und das Ohr sollte abgerundet und nicht faltig sein, denn diese Rasse neigt „zum faltigen Ohr“.

Erst kommt das Fressen, dann die Moral, wusste Bertold Brecht. Aber Brecht hatte vermutlich keine Kaninchen, denn dann hätte er anstelle der Moral die Schönheit eingefügt. Siebert formuliert es so: „Schönheit ist wichtig. Aber das Essen ist wichtiger.“ Schweigt kurz und fügt dann an: „Bei mir hat kein Kaninchen einen Namen.“ Das wäre gleich aus zwei Gründen unpraktisch: erstens nummerisch. Es wären Siebert im Laufe der Jahre wahrscheinlich die Namen ausgegangen. Der Mann, der aus Ostpreußen im Alter von fünf Jahren nach Dortmund kam, hat als Junge angefangen zu züchten. Zu den besten Zeiten hatte er bis zu 80 Tiere, heute sind es ein paar mehr als 30.

Eine gute Häsin wirft nach 31 Tagen, und nach weiteren 29 Tagen kann man sie wieder decken lassen. Siebert lässt sie zwar lieber etwas länger pausieren, das kommt den Tieren zugute, sagt er. Aber wenn man überschlägt, wie viele Kaninchen Siebert so in seinem Stall gesehen hat, dann ist man schnell bei Tausenden.
Zweitens ist da die Sache mit der Schlachtung, denn ein Kaninchen ist nichts für die Ewigkeit: Ein Tier lässt sich vermutlich leichter töten, wenn es einfach ein Tier ist und nicht Horst heißt. Oder Paul. Oder so.
Die Schlachtung beginnt damit, das ruhige Tier an den Ohren zu fassen, das Bolzenschussgerät an der Stirn anzusetzen, um dann den Kehlschnitt folgen zu lassen. Dann wird dem Kaninchen das Fell über die Ohren gezogen. All das macht Siebert im Keller und nie im Stall, denn was würde in den anderen Tieren vorgehen, wenn sie das sehen, hören und riechen würden?

All das hört sich archaisch an und ist doch nur der Kreislauf eines Nutztieres, von dem sich das moderne Leben entfernt hat und dessen Endprodukt, das Fleisch, vakuumiert im Supermarkt auf den Kunden wartet, der seinerseits den Genuss zwar schätzt, ansonsten den Tod aber outgesourct hat. „Hier weiß ich, was ich bekomme“, sagt Siebert. Der auch weiß, wie er ein Kaninchen, das von Natur aus ein trockenes, weil mageres Fleisch mitbringt, zuzubereiten hat, damit es auf dem Teller so schmeckt, wie es gelebt hat: gut. Die Bauchlappen sind das Beste, was man bekommen kann, Siebert isst sie gerne direkt aus der Pfanne, und seine vier Kinder, ein Sohn und drei Töchter, haben es Zeit ihres Lebens und von Anfang an vermittelt bekommen: Ein Nutztier ist ein Tier, das Nutzen bringt.

Es ist eine nette Laune des Schicksals, dass der Kaninchenvater Siebert seit 1975 dort wohnt, wo er wohnt: in einer wunderbaren kleinen Dorstfelder Bergbau-Siedlung, die unter „Denkmalschutz mit Kleintierhaltung“ steht, deren Ställe hinter dem Haus also optisch zu bewahren sind. Dort, wo früher die Bergleute ihre Kleintiere hatten, haben heute fast alle ein Badezimmer eingebaut. Auch bei Sieberts ist das so, die richtige Stallung steht im Garten. Doch außer dem „Denkmalschutz mit Kleintierhaltung“ ist hier nicht mehr viel mit Kleingetier.

Tauben zum Beispiel, „als die früher hier ihre Tauben fliegen ließen, da war der Himmel schwarz“. Heute gibt es nur noch einen, der Tauben hält. Mit den Kaninchen ist es nicht anders. Als die Tiere noch das waren, was sie in Sieberts Welt immer noch sind, ein Teil der Nahrungsbeschaffung, da gab es in Dortmund zwei Vereinsverbände: Hörde und Dortmund. Sie wurden dann zusammengelegt, das war aber erst der Beginn des Anfangs vom Ende. Bis 2006 etwa gab es in Dortmund 36 Kaninchenzüchtervereine, „dann ist es rapide bergab gegangen. Die Alten begannen wegzusterben und der Nachwuchs kam nicht.“

Siebert jammert da nicht groß herum, er stellt das schlicht fest. Woran das liegt, dass die Jungen wegbleiben? Da ist auf der einen Seite die regelmäßige Hege und Pflege, die Zeit und Mühe braucht. Dann ist da andererseits der Platz, den es braucht. „Die meisten jungen Leute haben ja keinen Platz mehr und fahren lieber in den Urlaub oder in die Muckibude oder was sie sonst so gerne machen.“ Jedenfalls wurden aus 36 Vereinen im Jahr 2006 zuletzt drei Vereine, die noch aktiv sind und züchten. Sieberts Verein, W1, hat aktuell noch 34 Mitglieder, und man hält das nur so lange für viel, bis man hört, dass es W1 erst erst 2010 gegründet wurde und aus einer Fusion aus sieben anderen Vereinen entstand. Vorher war Siebert im W 152, der feierte noch sein Hundertjähriges und war dann weg.

Verschwunden sind übrigens auch die ganzen Kneipen, in deren Sälen sich die Vereinsmitglieder trafen, um fachzusimpeln und zu schmausen. Wessen Verschwinden jetzt was ausgelöst hat, kann hier und heute nicht aufgelöst werden, aber W1 trifft sich inzwischen auf Zeche Zollern.
Es gibt aber noch mehr Feinde der Kaninchenzüchter als allein das Alter der Züchter, das Sterben der Kneipen oder die Unlust der Jungen. Zu nennen wäre zunächst RHD. Was für „Rabbit Haemorrhagic Disease“ steht und, so sagt es Siebert, früher auch „chinesische Krankheit“ genannt wurde, sie kam da wohl ursprünglich her.
2016 zum Beispiel hat die RHD in Dortmund gewütet, fast 900 Tiere starben, weil der Impfstoff erst im August zur Verfügung stand. Ein Züchter in Berghofen habe innerhalb weniger Tage allein rund 80 Tiere verloren, ein anderer in Kirchlinde gut 60. „Wenn Sie RHD haben, dann gehen Sie in den Stall, alles wirkt normal, und wenn Sie eine Stunde später nachsehen, dann sind schon zwei oder drei Tiere tot.“

RHD scheint unter Kaninchenzüchtern heute das zu sein, was im Mittelalter die Pest in Europa war. Die, die daran erkrankten, starben wie die Fliegen. Siebert hatte Glück, er blieb von RHD bisher verschont.
Nicht verschont blieb er indes vom Marder, ein weiterer natürlicher Feind des Kaninchenzüchters. Wenn so ein Marder im Stall ist, dann macht der keine Gefangenen, sondern nur Tote. Es gab vor ein paar Jahren in Dortmund und Umgebung die Geschichte vom Kaninchenripper, eine Art Phantom, das durch die Gegend schlich und Kleintiere meuchelte, indem er ihnen den Kopf abriss und merkwürdigerweise blutleer zurückließ. Siebert ist der festen Überzeugung, dass dieser Kaninchenripper kein Mensch war, sondern schlicht Marder zuschlugen. Er hatte selber solche Tiere im Stall, den Kopf ab und kein Blut mehr, nirgends. „Das hatte der Marder getrunken.“
Heute ist der Stall mit einer stabilen Tür gesichert, die nachts abgeschlossen ist, denn „der Marder schlägt nachts zu“.
Wer Kleintierzüchter für spießige Menschen hält, die nicht über den Tellerrand schauen, hat sich noch nicht mit der Geschichte der Zucht, in diesem Fall der Kaninchenzucht, beschäftigt. Ihr Ursprung liegt in England, dann kamen Frankreich und Holland dazu, dann Deutschland. In Holland mag man kleine Rassen, in Deutschland „wurden die Rassen dann verfeinert“, sagt Siebert. Woran das jetzt liegt, kann er selber nur mutmaßen. Mag sein, dass es hier im Naturell liegt, etwas eingeordnet, bewertet und beurkundet zu bekommen.
Am Anfang jedenfalls standen die „Volksrassen“, die man auch „Wirtschaftsrassen“ nennen kann. Der Blauwiener etwa, oder der Großchinchilla, dessen Fell früher sehr begehrt war, da es dem des Chinchillas glich. Oder auch der helle Großsilber oder der Deutsche Riese, wobei diese Rassen gemein haben, dass sie ihre heutigen Namen im III. Reich erhielten. Davor hießen sie Französischsilber und Belgischer Riese. So fand in kleine und friedliche Ställe die große und schlechte Weltgeschichte ihren Weg.

Und jetzt? Was wird sein, wenn Peter Siebert selber einmal Geschichte sein wird? War es das dann mit der Zeit, in der Menschen Teile ihrer Nahrung selber züchteten? Kann sein. Muss es aber nicht, findet Siebert. Dieses Hobby, was ja das Beste ist, das man erreichen kann, kann den Tod überwinden. Neulich las er in der Zeitung eine Geschichte über Altersarmut, da lebt ein Mann mit seiner Frau von 13 Euro am Tag. Vielleicht besinnen sich die Leute, wenn es ihnen finanziell nicht gut geht, wieder darauf, wie sie selber Nahrung produzieren können. Von der Kaninchenzucht kann man nicht reich werden, aber ab und an ein Sonntagsbraten, das ist doch eine feine Sache. Die Imker zum Beispiel, die machen es im Moment vor, da gebe es einen richtigen kleinen Aufschwung. Mit Bienen hat es Siebert nicht so, aber in den 60 Jahren Kaninchenzucht hat er einen Erfahrungsschatz angesammelt, der enorm ist. So kann er mit diesen großen Händen, die zu einem Bauarbeiter passen würden, nach 10 bis 14 Tagen erfühlen, ob eine „belegte Häsin“ trächtig ist.
Wenn Siebert das so erzählt, möchte man ihn unter Denkmalschutz stellen. Zusammen mit seiner „Siedlung mit Kleintierhaltung“.

 

Wenn Arme selig sind, ist hier das Himmelreich

„Dortmund“, sagt der Taxifahrer, „musst Du Dir so vorstellen. Wenn Du einen Menschen aus dem Süden in den Norden fährst, will der den Wagen verriegeln und sagt: Schlimm hier, überall Kriminelle. Wenn Du einen aus dem Norden in den Süden fährst, guckt der aus dem Fenster und sagt: Krass hier, überall Geld.“

In Dortmund leben viele Menschen von Hartz IV – besonders betroffen sind Kinder. Das hat Gründe.

Geld stinkt oder stinkt nicht, aber Armut kann man riechen. Wenn man nahe genug rangeht.

Es müffelt ein bisschen in der Kirche St. Michael an diesem Donnerstag Anfang Februar. Das Thema der Andacht ist „Karneval – Licht und Freude in die Welt bringen“. Als erstes also Lied Nr. 455, „Alles meinem Gott zu Ehren“.
Die Frau mit der Trompete vorne rechts bläst die Melodie, die beiden pensionierten Pfarrer vorne links singen am lautesten mit. Ein paar Frauen leise und Uwe hat Kopfhörer im Ohr. Er hört gerne die Band „Böhse Onkelz“, was hier keinen stört, es ist eine Andachtsfeier für Obdachlose.
Einige haben ihr Hab und Gut in überdimensionalen Plastiktüten mitgebracht. Die kräftigen Dinger, die eher an Plane denn an Tüte erinnern, stehen hier hoch im Kurs. Auf einer steht: „Heimat neu entdecken“, in ihr stecken leere Pfandflaschen. Unter anderem.

Die Andachtsfeier zieht ihr Zielpublikum, weil es anschließend etwas zu essen gibt. Die Veranstaltung findet alle zwei Wochen statt. Immer an einem Donnerstag, und wie voll es wird, hängt oft damit zusammen, wie weit der Monat bereits fortgeschritten ist: Zum Monatsende kommen mehr. Die Kirchenanlage liegt in der Westerbleichstraße in der Nordstadt. Heute sind es 70, vielleicht 80, die gekommen sind.
Wer Heimat neu entdecken will, kann hierher kommen. Nur ist das, was es zu sehen gibt, keine blühende Landschaft wie auf der Discountertüte. Willkommen auf dem Planeten Armut.

Dortmund ist arm. Steht ja überall geschrieben.
„Armutsquote in Duisburg und Dortmund dramatisch“ (Welt)
„Region Dortmund in NRW am meisten von Armut bedroht“ (Westfalenpost)
„Alarm im Ghetto Dortmund-Nord“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung)
„Zahl der Obdachlosen steigt“ (Ruhr Nachrichten)

Aber auch wenn es überall geschrieben steht, muss man differenzieren: Nicht Dortmund ist arm, es sind Viertel der Stadt, die sehr arm sind. Selbst wenn man Armut in der ganzen Innenstadt sehen kann: Bettler, Pfandflaschensammler, die die Mülleimer unter sich aufgeteilt haben. Menschen, die in Eingängen schlafen. Das sind die offenkundigen Zeichen.
Daniel Schwarzmann ist seit zweieinhalb Jahren Obdachlosenseelsorger in Dortmund. Sein Vorgänger sprach ihn an, er hatte den Job 15 Jahre lang gemacht. Es fand sich zuvor länger niemand, der dieses Amt übernehmen wollte, begehrte Stellen sehen anders aus. Schwarzmann nahm dann die Stelle an, er sagt heute, „das Abenteuer der direkten Nachfolge Jesu Christi“ habe ihn gereizt.
Auf was er sich einließ, das wusste er damals nicht. Und verstand auch nicht, was sein Vorgänger ihm sagen wollte, als er ihm direkt am Anfang ein Nietzsche-Zitat mit auf den Weg gab: „Wenn Du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in Dich hinein.“ In seiner ersten Sprechstunde kam dann eine Frau zu ihm. Ihr Freund, sagte die Frau, sei gestern auf dem Nordmarkt abgestochen worden. Schwarzmann sagt heute, nach zweieinhalb Jahren im Amt, er betreibe Seelsorge am Abgrund.
Der Abgrund in nackten Zahlen: Im September 2016 lebten in Dortmund 86 361 Menschen von Hartz IV. Das sind rund 14 Prozent der Gesamtbevölkerung. Dramatisch ist die Zahl der betroffenen Kinder: 30,3 Prozent der Menschen, die jünger sind als 18 Jahre, leben in Familien, die Hartz IV beziehen. Das sind rund 28 000 Kinder und Jugendliche.

Aber Zahlen sind abstrakt. Und nicht vollständig: Die Zahl der Kinder, die in Dortmund in Armut aufwachsen, ist höher als 28 000. Sagt Martina Furlan, Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes. Denn nicht eingerechnet sind die Kinder, die in Familien leben, die ergänzende Leistungen beziehen. Und Familien, die so gerade eben aus staatlichen Unterstützungen herausfallen. Wie viele das sind? Unklar, aber mehrere Tausend Kinder und Jugendliche dürften noch dazugerechnet werden.

Schwarzmann ist Obdachlosenseelsorger, was nicht bedeutet, dass er sich nur um Obdachlose kümmert. Von denen gibt es Schätzungen zufolge 600 in der Stadt. Genau weiß das keiner, es gibt nur Schätzungen. Es gibt auch keine Bundesstatistik, es gibt nur einen Trend. Und demzufolge ist die Zahl der Obdachlosen in Deutschland seit 2010 um 35 Prozent gestiegen.
Der Seelsorger beobachtet im Moment auch einen Anstieg: Er meint, immer mehr obdachlose Polen wahrzunehmen. Was ja auch einleuchtend ist: Besser obdachlos in Deutschland als in Polen.

Bernd ist keiner von ihnen. Er hat, soweit man das von außen beurteilen kann, ein gutes Leben. Lange Berufsjahre bei der Deutschen Bahn, jetzt ist er Rentner. Bernd ist 68 Jahre alt und alle zwei Wochen kommt er aus Körne nach St. Michael. Sie feiern dann hier in der Westerbleichstraße die Andacht, danach gibt es Essen, meist eine ordentliche Suppe aus dem Pfefferkorn. Später noch einen Nachtisch, Kuchen von Böhmer, anschließend aufräumen und dann war es das.
Er wollte, sagt Bernd, gerne etwas tun, so wie es viele machen, die sich in Dortmund engagieren. Wenn man Bernd fragt, was seine Arbeit mit ihm macht, dann sagt er: „Nachdenklich“. Dann schweigt er kurz, während er eine Apfelschorle ausschenkt, und setzt dann fort: „Satt kriegen wir sie. Aber ihre Probleme lösen können wir nicht.“

Probleme haben sie, die hierher kommen, alle.
Der Mann, der seinen Partner verlor und dann abrutschte.
Die kleine Frau, die sich sowohl in der Kirche als auch im Pfarrheim am Rand rumdrückt und deren Blick in Bänden spricht, dass sie sich hier nicht wohlfühlt.
Oder Stephan. Abgebrochener Student, wacher Blick, langes Haar. Stephan ist 37, sieht aus wie 47, und wenn man ihm das sagt, guckt er überrascht. Als hätte er das noch nie gehört. Oder länger nicht in den Spiegel geschaut. Dass man von der Zeitung kommt, findet er interessant, schreiben, das könnte er sich auch vorstellen. Kurzgeschichten, einfach nur das, was um ihn herum passiert.
Kostproben?

Zum Beispiel der Kumpel aus Scharnhorst, der Geld brauchte und dann die Heizkörper in der Mietwohnung abkloppte und zum Altmetallhändler brachte. Das war im Sommer. Was macht er jetzt? Vielleicht lebt er ja auch nicht mehr, hatte ein Drogenproblem.
Oder Peter, den sie alle „Peter aus Peters Welt“ nennen würden, der sei nämlich echt schräg drauf, was hier, wo die Norm verschwimmt, etwas heißen soll. Peter hatte, als er mal richtig dringend Geld brauchte, inseriert. „Renovierungs- und Hausmeistertätigkeiten“, in der Anzeige stand dann noch was von „Büro am Borsigplatz“ und einer Festnetznummer. Peter stand dann in der Telefonzelle am Borsigplatz und wartete auf Anrufe. Wenn einer anrief, fuhr Peter dahin, nahm eine Anzahlung und verschwand. Es war ein kurzlebiges Geschäftsmodell.

Bernd, der alte Bahner, weiß nicht, ob das, was er tut, richtig ist. Aber es gibt ihm ein gutes Gefühl, etwas zu tun zu haben und dabei Menschen zu helfen. Die Debatte, ob Tafeln, die von Ehrenamtlern getragen werden, eher den Menschen helfen, satt zu werden, oder dem Staat, Aufgaben nicht mehr zu erfüllen, ist so alt wie die Tafeln selbst. Aber ohne sie blieben viele Bäuche leer. Im Gasthaus will Bernd seine ehrenamtliche Arbeit nicht tun, das sei ihm zu groß, zu voll, zu unpersönlich.

Das Gasthaus heißt präzise „Gast-Haus statt Bank“, es ist eine ökumenische Wohnungsloseninitiative, die vor 21 Jahren gegründet wurde und ihre Räume an der Rheinischen Straße hat. 2016 hatte das Gasthaus 105 000 Gäste, 140 ehrenamtliche Mitarbeiter arbeiteten dort gemeinsam 15 000 Stunden. Damit ist die Initiative am Limit.
Werner Lauterborn, Vorsitzender des Vereins „Gast-Haus“, ist „sehr froh, dass nur selten Familien mit Kindern unser Angebot in Anspruch nehmen müssen. Die Personen, die zu uns kommen, sind Wohnungslose und Menschen am Rande der Armutsgrenze, die sich fast alle im erwachsenen Alter befinden.“

Vor Kurzem hat der 36-jährige Schwarzmann einen Anruf erhalten, am anderen Ende der Leitung war ein 14-jähriges Mädchen. Sie rief wegen ihrer Schwester an, neun Jahre alt, die friere auf dem Schulweg immer und habe keine Winterjacke. Das Mädchen hatte auch keine Winterschuhe, dafür einen Vater, der im Gefängnis sitzt und eine Mutter, die kifft und ihren Fernseher alle zwei Monate ins Pfandleihhaus trägt. Schwarzmann hat den Fernseher ein-, zweimal ausgelöst, heute macht er das nicht mehr.
Er denkt, dass die Armut, die er sieht, wenn im Pfarrsaal der St.-Michael-Kirche zu Tisch gebeten wird, die sichtbare Armut ist. Die andere, noch größere, ist die versteckte. Denn den Menschen auf der Straße sieht man im Vorbeigehen nicht unbedingt an, was bei ihnen daheim los. Im Kühlschrank. Im Kleiderschrank. Auf dem Konto oder im Kopf.
Schwarzmann sieht mehr, wenn er in Häuser geht, deren Türen normalerweise verschlossen bleiben. Das kann in der Nordstadt sein, aber auch in Eving, wo es Kinder gibt, die auf dem Fußboden schlafen. Sie haben nicht nur kein Bett, sie haben auch keine Matratze. Rund 15 solcher Fälle gibt es, die Schwarzmann selbst gesehen hat.

Wenn ein Kind keinen Platz zum Schlafen hat, wo macht es dann seine Hausaufgaben?
Natürlich, anderswo verhungern Menschen und haben andere Probleme als eine fehlende Matratze, kann man einwenden – aber was hilft einem Kind ein solcher Vergleich, das in derartigen Verhältnissen groß wird?

Und das annehmen muss, dass so ein Leben ein normales Leben ist. Dass Armut immer relativ ist, weiß auch Martina Furlan. Sie arbeitet seit zwölf Jahren beim Kinderschutzbund. Gerade Kinder brauchen, sagt sie, „für eine Teilhabe an der Gesellschaft mehr Dinge, als nicht zu verhungern“. Neben Kleidung und Spielsachen seien das auch Dinge aus Kunst und Kultur.

Wer nicht die Möglichkeit hat, seinen Horizont zu erweitern und Möglichkeiten zu entdecken, woher soll der wissen, was ein Leben lebenswert macht? Die Frage sei doch, sagt Furlan, wie man sozialisiert werde. Wenn zum Beispiel ein Kind maximal McDonalds kennengelernt habe, wo man die Fritten mit den Händen isst, würde das, wenn es später einmal in einem Restaurant sitzt, sich dort nicht wohlfühlen und nicht klarkommen.

Bei Springer, einem Wissenschaftsverlag, erschien vor Kurzem das „Jahrbuch Stadterneuerung 2016“, das sich mit Stadterneuerung und Armut in verschiedenen Städten auseinandersetzt, Dortmund kam mit zwei Kapiteln vor. Eins beschäftigte sich mit der Armutszuwanderung, das andere mit Bildungsungleichheiten in Dortmund. Beide sind lesenswert, das letztere kommt zu dem Schluss, dass es einen sich verstärkenden Wettbewerb um die „richtige Schule“ gibt.
Menschen, denen ihre Kinder etwas bedeuten und die es sich leisten können, verlassen arme Stadtteile. Was wiederum zu einer „Entmischung von Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft“ führt, was „Bildungsbenachteiligung oftmals verstärkt und soziale Benachteiligung damit reproduziert“.
Anders formuliert: Armut konzentriert und manifestiert sich. Wer kann, zieht weg. Wer nicht kann, kommt nicht raus.

Die Kirche von Schwarzmann bietet in den Herbstferien für benachteiligte Kinder Freizeiten an, die nächste Tour 2017 soll nach Helgoland gehen. 2016 waren sie mit 15 Jugendlichen in Graal-Müritz an der Ostsee. Bei diesen Touren sehen viele zum ersten Mal das Meer, aber nicht alle Kinder können mitfahren, weil sich ihre Eltern den Eigenanteil von 50 Euro für eine Woche nicht leisten können.
Mit diesen Kindern wurden in der Vergangenheit kostenlose Ausflüge in die nähere Umgebung gemacht, einmal ging es ins benachbarte Bochum an den Kemnader Stausee. Ein Kind stand dann also mit anderen Kindern und Pfarrer Schwarzmann an dem See und staunte mit offenen Mund, als es die Wasserfläche sah: Einen See hatte es noch nie gesehen und wollte wissen, was das ist.
Bernd lebt zeit seines Lebens in Dortmund. Dass der Norden arm ist und der Süden reich, das war schon immer so. Aber wenn er sich aus Körne auf den Weg macht, sieht er zunehmend Müll und Armut und glaubt festzustellen, dass die Bedingungen härter geworden sind. Einwanderung nach Dortmund hat es schon immer gegeben und wer ankommt und wenig hat, der geht in den Norden.
Aber es hat sich etwas verändert: Die Menschen, die als Gastarbeiter gerufen wurden und kamen, hatten, da sie gebraucht wurden, einen Job und damit eine Perspektive. Abgesehen davon, dass Arbeit auch integriert. Mit dem Zuzug in den letzten Jahren aber verhält es sich anders. Da kamen einerseits die Armutsmi-granten aus Südosteuropa und danach die Flüchtlinge – die Chancen dieser Menschen auf einen auskömmlichen Job sind, gelinde gesagt, gering. „Es fehlen“, heißt es aus dem Jobcenter, „Arbeitsplätze für gering qualifizierte Personen“.
Und noch ein Gedanke stimmt für die Zukunft pessimistisch: Wenn Menschen nach Deutschland kommen und sich in der Nordstadt ansiedeln, wen treffen sie dann als deutsche Nachbarn an? Arme Menschen, süchtige Menschen, Männer, die Gewalt gegen ihre Frauen anwenden, und Kinder, die nicht sauber sind. Diese Menschen sind für sie „deutsch“, „Du Deutscher“ wird zu einem Schimpfwort. So beschreibt es ein im Norden tätiger Lehrer.
Die andere Möglichkeit, die sich daraus ergibt, ist, dass solche vorgelebten Beispiele ein Leitfaden sind, wie das Leben in Deutschland funktioniert. Man kann es drehen und wenden, wie man will, wenn es so bleibt, hat es etwas von der Wahl zwischen Pest und Cholera.

Der Obdachlosenseelsorger sagt, dass es auch überdachte Obdachlosigkeit gebe, womit er nicht die acht Männer meint, die hinter Hornbach in Zelten schlafen. Er meint Wohnungen, die in einem desaströsen Zustand sind, Messie-Buden, wo vieles drin steht, aber nichts so, dass man es gebrauchen kann. Haben statt sein.
Oder diese Wohnung im Brunnenstraßenviertel, wo das hintere Fenster aufgebrochen ist und der Wohnungsinhaber, der sein Leben schon länger nicht mehr unter Kontrolle hat, morgens wach wird und Menschen in seiner Wohnung findet, die am Abend noch nicht da waren. Gelebt werden statt leben.
Schwarzmann empfindet die Grundfarben der Stadt inzwischen eher als grau und schwarz.

Dass Familien Geld fehlt, dafür gibt es vor allen Dingen zwei Gründe: Zu wenig Geld durch prekäre Arbeitsverhältnisse steht an erster Stelle, dicht gefolgt von Alleinerziehenden. 89 Prozent von ihnen sind Mütter. Das Armutsrisiko für Kinder von Alleinerziehenden ist in den vergangenen zehn Jahren um sieben Prozent gestiegen. Bei drei von vier Kindern kommt kein oder nur sehr wenig Unterhalt an. Das sind Zahlen der Bertelsmann-Stiftung. Und sie decken sich mit der Realität in Schwarzmanns Nordstadt.
Wenn er sich in solchen Fällen engagiert, kommt es manchmal zu einem für einen katholischen Pfarrer nicht unerheblichen Problem: In seinem Engagement wird er als männliche Person wahrgenommen, die sich uneigennützig kümmert und auch helfen kann. Dann kann es vorkommen, dass Daniel Schwarzmann aus St. Michael zu Pater Ralph aus den „Dornenvögeln“ für Arme wird. Frauen fühlen sich mehr zu ihm hingezogen, als es gut wäre.
Wenn Schwarzmann dann solche Gefühle zurückweist, kann es vorkommen, dass er beschimpft wird. Als sich so etwas zum ersten Mal ereignete, war er noch perplex – inzwischen kann er Zeichen besser deuten.

Eine Jacke besorgen, Winterschuhe, gespendete Gelder weiterreichen, das sind Dinge, die er machen kann. Und die immer nur einen Moment helfen, eine einzelne Situation kurzfristig verbessern können. Wenn er über andere Lösungsansätze nachdenkt, dann fällt ihm zunächst ein Zitat ein: Der Mensch ändert sich aus Verzweiflung oder aus Liebe. Stabile Partnerschaften könnten Menschen helfen. Oder die pure Verzweiflung, wenn sie auf dem Boden aufgeschlagen sind.

Gesellschaftliche Lösungsansätze gegen Armut hat der Obdachlosenseelsorger aber auch einige: So sei die Versorgung der Obdachlosen in Dortmund nicht optimal. Man bräuchte eine innenstadtnähere Unterbringungsmöglichkeit für Obdachlose neben der Notunterkunft in der Unionstraße. So seien die Wohnungen im Grevendicks Feld zu weit außerhalb gelegen.
Schwarzmann schwebt vor, aus der St.-Michael-Kirche ein Altenheim für Obdachlose zu machen. Auch müssten bestehende Hilfsangebote, die es ja bereits gibt, besser miteinander vernetzt werden. Zuallererst aber müsse „die Ghettostruktur, die wir hier in der Nordstadt haben, durchbrochen werden.“ Ach ja, und eins noch: „Wir müssen uns jetzt Gedanken über den kommenden Winter machen. Nicht erst im Herbst 2017, wenn sich die Politik meldet.“

Auch Martina Furlan vom Kinderschutzbund glaubt, dass die bestehenden Hilfsangebote, sei es „Nordwärts“ von der Stadt oder „Kein Kind zurücklassen“ von der Landesregierung, zu einem Stück weit ankommen – es aber mehr brauche. Für die Kinder müssten Bildung und Teilhabe besser organisiert werden. Langfristig müssten Familien und Alleinerziehende gestärkt werden. Es gebe Schritte in die richtige Richtung, etwa einen Anspruch auf einen Kindergartenplatz. Aber schon für die Jüngsten müsste es Betreuungsangebote geben. Eben damit sie sozialisiert werden können. Wer das bezahlen soll? Im Zweifel der Staat, das Land und die Kommune.

Denn wenn man die Rechnung aufmacht, was wohl billiger kommt, die Frühförderung, die ein geregeltes Leben ermöglicht, oder Sozialleistungen ein Leben lang, aus denen dann wiederum Sozialleistungsempfänger hervorgehen, dann kann es für die über 30 000 Kinder, die Hilfe brauchen, nur einen Weg geben.
Unten bleiben sie von ganz alleine

 

Granaten fürs Revers

Es beginnt mit einer Kiste. Sie ist aus einer Art dicker Pappe, wie man sie heute nur noch selten in den Händen hält. Diese Pappe hat Patina angesetzt, man sieht ihr an, dass sie alt ist. Mindestens 61 Jahre alt muss sie sein und sie kam auf verschlungenen Wegen zu ihrer Besitzerin. Auch die Frau ist alt, sie weiß, dass ihre Zeit endlich ist, sie weiß aber nicht, was sie mit der Kiste und ihrem Inhalt tun soll. Sie schreibt das Haus für deutsche Geschichte in Bonn an.

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In Bonn hat man für den Inhalt keine Verwendung. Man sei, heißt es von dort, erst an Gegenständen ab 1945 interessiert. Was sie sonst mit diesen Sachen machen kann, weiß man dort auch nicht.
Als junges Mädchen hat die Frau, die in Dortmund lebt, das Dritte Reich erlebt. Jugendorganisationen durchlaufen, wie fast alle damals, Einsätze bei dem „Bund Deutscher Mädel“. Sie weiß noch, wie sie mit der Sammelbüchse durch die Straßen lief und sammelte. Für das Winterhilfswerk.

Aus der Westfälischen Landeszeitung Rote Erde vom 16. 10. 1939:
Glänzender Auftakt
„Das Wochenende erlebten auch wir Dortmunder im Zeichen der unter dem Leitwort „Schaffende sammeln – Schaffende geben“ stehenden ersten Straßensammlung des Kriegswinterhilfswerks 1939/40. Es war nicht schwer, festzustellen, daß ebenso wie unsere Soldaten an den Grenzen unseres Vaterlandes auch die Heimatfront auf treuer, breiter Macht steht.“

Heimatfront. Winterhilfswerk. Dinge, die die Frau kennt. Von denen sie ein Teil war. Und diese Kiste holt all das wieder aus der Vergangenheit zurück, sobald sie sie nur anschaut. Hunderte kleine Dinge sind in dieser Kiste. Anstecknadeln, Papierblumen, Kunststoffsoldaten, Plaketten, Holzfigürchen. Ältere Aufkleber, auf denen Sprüche stehen wie „Du gabst dem Führer dein Ja – nun steh zu deinem Wort“. Oder auch kleine Büchlein, „Des Führers Kampf im Osten“, sechs Ausgaben. Vieles aus der Kiste ist mit einem kleinen Bändchen versehen, es scheint, als wäre das alles auch als Weihnachtsbaumschmuck zu nutzen.
Wenn man in diese Kiste schaut, fallen einem Überraschungseier ein. Die meisten Dinge sind klein genug, um darin zu verschwinden. Und Panini-Alben fallen einem ein. Hitler im Miniaturformat, Propaganda fürs Kinderzimmer. So wie die Panzerwagen, die Flugzeuge, die Ansteckgranaten. Die Frau weiß nicht, was sie mit diesen Dingen machen soll. Sie schreibt an die Zeitung.

Das „Winterhilfswerk des Deutschen Volkes“ diente den Nationalsozialisten dazu, die materielle Not von Teilen der Bevölkerung zu lindern. Die „Volksgemeinschaft“ – ein Begriff, mit dem heute auch die AfD arbeitet – sollte gestärkt werden und das „Wir“ herausgearbeitet werden. Das Grundgefühl, dass unter Hitler nicht alles schlecht gewesen sei, fußt zu einem guten Teil auf dem WHW. Eine Erfindung der Nationalsozialisten aber war das Winterhilfswerk nicht. Bereits in den 1920er-Jahren gab es in den Wintermonaten Sammlungen von karitativen Organisationen, darunter unter anderem der „Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden“.

Aus der Westfälischen Landeszeitung Rote Erde vom 23. 3. 1940:
Jeder bekommt seinen Schmetterling
„Man kann nur immer wieder darüber staunen, wieviel Geschmack die verantwortlichen Männer bei der Auswahl der Abzeichen für die Reichsstraßensammlungen zugunsten des Kriegs-Winterhilfswerkes entwickeln. Sie machen es uns wahrhaftig leicht, unsere Spende zu geben, denn die Abzeichen sind so wunderhübsch, dass sie mit den üblichen 30 Pfennigen eigentlich noch gar nicht bezahlt sind, daß wir uns eigentlich moralisch verpflichtet fühlen müßten, noch einen Groschen mehr zu geben.“

Die Frau hatte damals, als junges Mädchen, selbst diese Anstecker in der Hand, dazu eine Sammelbüchse. Wer etwas gab, bekam ein Abzeichen, ein Heftchen, eine Medaille. So etwas konnte man sich dann ans Revers heften, um zu zeigen, dass man „seinen Teil“ gegeben hatte. Oder eben nicht. 1,5 Millionen Menschen waren als meist ehrenamtliche „ständige Helfer“ bei der ersten Sammlung im Winter 1933/1934 dabei. Sie sammelten umgerechnet 1,6 Milliarden Euro.

Die Kiste mit den ganzen WHW-Devotionalien ist über viele Umwege zu der Frau gekommen. Verwandte führten damals eine Buchhandlung, möglich, dass sie so an die Sammlung kamen. Noch bemerkenswerter als die Menge der Einzelstücke ist aber der Umstand, dass die Kiste und ihr Inhalt bis heute aufgehoben wurden.
Denn vieles, worauf die Besitzer zu Kriegszeiten stolz waren, war nach Kriegsende plötzlich verschwunden. Laut Dr. Stefan Mühlhofer vom Stadtarchiv betrifft das vor allem Gegenstände aus dem zivilen Leben. Einerseits fiel viel der Scham zum Opfer, andererseits war zum Beispiel Papier – wie es fast alle anderen Rohstoffe waren – 1945 knapp.
Und wenn heute Angehörige in den Nachlässen von Verstorbenen Schriftstücke oder Dinge mit Bezug zum Dritten Reich entdecken, wird das oft vernichtet: Man will ja die Erinnerung an den Verstorbenen nicht beflecken.
Die Kiste zu vernichten, ist für die Frau keine Option. Sie sagt, dass der Nationalsozialismus der wahrscheinlich dunkelste Teil der deutschen Geschichte ist. Aber eben ein Teil der Geschichte. Das könne man doch nicht einfach so ausblenden oder vergessen. Den Vorschlag, die Kiste dem Stadtarchiv zu übergeben, hält sie für eine gute Idee.

Aus der Tremonia (Vorläufer der Ruhr Nachrichten) vom 21. 10. 1940:
Der Hosenmatz im Panzerwagen
„Spiel, Sang und Tanz waren am Sonnabend und am Sonntag in Groß-Dortmund vorherrschend. Vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang folgte auf den verschiedensten Plätzen eine Darbietung auf die andere. Dazwischen klapperten die Büchsen. Gerne und freudig wurden die Abzeichen ausgesucht. Diese kleinen Dinger hatten es aber auch in sich. Man konnte Männer und Frauen mit drei und vier Abzeichen sehen. Und wer könnte denn auch einem frischen jungen Mädel etwas abschlagen…?“

Es waren nicht nur „frische junge Mädel“, die da sammelten. Bei den Straßensammlungen wurden sämtliche Straßen erfasst, katalogisiert und die gegebenen Spenden zusammengerechnet. Von Gehältern wurde eine „freiwillige Winterhilfe“ abgezogen, die Exil-SPD „Sopade“ bezeichnete die Sammlungen als „organisierte Wegelagerei“, schrieb von „spontanen Terroraktionen gegen besonders zurückhaltende Spender“ und davon, dass Behörden die Erteilung von Aufträgen von ausreichenden WHW-Spenden abhängig machten. Aber auch, wenn WHW im Volksmund auch mit „Waffenhilfswerk“ oder „Wir hungern weiter“ übersetzt wurde, überwiegt laut dem Autor und Historiker Herwart Vorländer das Gefühl, etwas „für einen guten Zweck zu tun“.

Die Einnahmen durch das WHW bleiben einige Jahre auf einem konstanten Niveau, nach Kriegsbeginn gehen sie durch die Decke: umgerechnet 2,3 Milliarden Euro 1938/1939, 1942/1943 dann 6,2 Milliarden Euro. Die Einnahmen liegen deutlich über dem, was der NS-Staat selbst aus Steuermitteln für öffentliche Fürsorgeverbände aufbringt. Zeitgleich war die Produktion der diversen Devotionalien ein Arbeitsbeschaffungsprogramm gerade in ländlichen Gegenden für Familien und Kleinbetriebe. Aus den Devotionalienherstellung war eine Massenproduktion geworden.

Im Stadtarchiv kommt es in letzter Zeit häufiger vor, dass Teile aus Nachlässen abgegeben werden. Teilweise anonym. Es sind, sagt Archivar Dirk Buchholz, verschiedenste Dinge darunter: Alte Fotoalben oder Negativ-Glasplatten, Dokumente, einmal wurde auch ein Ordner mit Flugblättern abgegeben.
Sogenannte „Feindpropaganda“, bei der er ebenfalls erstaunt ist, dass sie nicht vernichtet wurde. Bei den WHW-Devotionalien handelt es sich aus Sicht des Archivars um eine sachthematische Sammlung. „Ich habe“, sagt Buchholz, im Stadtarchiv Experte für Nachlässe und zeitgeschichtliche Sammlungen, „ja schon viel gesehen. Aber das hier ist etwas Besonderes.“

Im Internet gibt es einen Markt für diese Devotionalien. Fast alle Stücke, die sich in der Kiste finden, kann man andernorts auch kaufen. Die Preisspanne ist beträchtlich, sie beginnt bei 1 oder 2 Euro und steigt bei einzelnen Stücken auf über 200 Euro. Besonders begehrt scheinen Papierplaketten zu sein. Und die Nachfrage, so ein Händler aus Österreich, ist durchaus international. Gerade auf dem amerikanischen Markt scheint es viele Interessenten zu geben.

Das Material aus der Kiste wird jetzt im Stadtarchiv katalogisiert und inventarisiert und soll später Ausstellungen bereichern oder vielleicht auch einmal selbst eine Ausstellung werden. Das wird sich zeigen. Es ist, wie die Frau bei sich im Wohnzimmer sagte: Diese Dinge sind ein Teil der Geschichte. Das sehen sie auch im Stadtarchiv so. Und werben darum, dass Dinge aus Nachlässen abgegeben werden. Gerne und gerade Dinge aus dem privaten Bereich. Denn das sei längst nicht so banal, wie die Menschen meinen würden. Davon gebe es, im Gegenteil, zu wenig.

 

Höchste Eisenbahn

Altenheim-Bahn1

Später, wenn die Kraft nachlässt und die Freunde Erinnerungen sind, wenn die Zeit immer weniger wird und doch immer mehr wird, weil nur noch wenig da ist, um sie zu füllen, dann geht man ins Heim. Der letzte Umzug vor dem letzten Auszug. Im Heim stirbt man dann. Und dann ist es vorbei. So wie bei Oma.

Als sie alt geworden war, der Flur der Wohnung zur schier unüberwindbaren Ebene, das Bad zum Schwimmbad und das Treppenhaus zum Mont Blanc geworden war, kam Oma ins Heim. Sie nahm wenig mit. Ein Bild für die Wand, den Schalke-Wimpel, Kleidung – „der Auftritt“, das war ihr immer wichtig gewesen. Wie sie an den Schalke-Wimpel gekommen war, weiß ich nicht, das war wahrscheinlich so ein Oppositionsding: Für etwas sein, weil alle anderen dagegen sind.
Wir fuhren oft am Wochenende zu Oma, das Heim ist in meiner Kindheitserinnerung riesengroß. Sie saß dann meist allein in ihrem Zimmer und wollte wissen, wie Schalke gespielt hatte, auch wenn die gar nicht gespielt hatten. Oma saß da, ab und an auch in der Eingangshalle, beim Bingo oder beim Abendessen. Eine Scheibe Graubrot, roter Früchtetee, eine Scheibe Wurst, eine Scheibe Käse, ein Lebensende. So war das damals, ich war sechs oder sieben und Oma war irgendwann tot.
Fängt der Tod eigentlich mit dem ersten Tag im Leben oder mit dem ersten Tag im Heim an?
So oder so: Es will ja keiner rein in so ein Altenheim. Und es gehen dann doch die meisten. 2,5 Millionen Menschen sind aktuell in Deutschland pflegebedürftig, in 15 Jahren sollen es 3,5 Millionen sein, rund 13 000 Heime gibt es in Deutschland. Sie werden nicht reichen. Das Bild, dass mehrheitlich von Altenheimen gezeichnet wird, ist bestenfalls grabsteingrau und besteht abseits des gut gefüllten Geldbeutels aus folgenden Farbnuancen: Pflegenotstand, Graubrot, Krankenhausgeruch, Tabletten und Inkontinenz. Titel des Gemäldes: „Persönliche Endzeitdämmerung“.
Furchtbar!
Aber warum?

„Die Pflege“, sagt Angelika Zegelin, „wurde unendlich reduziert“. Zegelin ist Expertin. Heutzutage sind die Menschen ja allenthalben Experten in irgendwas: Ein Mikro vor die Nase, ein Satz geradeaus gesprochen, schwupps hat man heute den Expertenstempel. Zegelin hat sich ihren Stempel hart erarbeitet. 1952 geboren, mit 13 Jahren Pflegevorschülerin, dann Krankenpflegeausbildung. Arbeiten, Pflegepersonal ausbilden, dazu ein zweiter Bildungsweg, der auch für zwei gereicht hätte. 2015 ging sie als Prof. Dr. Angelika Zegelin von der Universität Witten/Herdecke mit dem Bundesverdienstkreuz und als eine der bekanntesten Pflegewissenschaftlerin des Landes in den Ruhestand. Und hat nebenher noch gefühlt das halbe Dortmunder Krankenpflegepersonal ausgebildet.
Wir sitzen vor dem Seniorenwohnpark Burgholz. Altenheime haben ja heute kaum noch ein Alt- oder ein -heim im Namen, sondern gerne „Residenz“ oder „Stift“ oder eben „Park“. Was letztlich, findet Zegelin, Kosmetik ist und wenig über die wesentlichen Dinge aussagt, die hinter den Mauern geschehen. Eigentlich wollen wir über die alte HO-Eisenbahn von Frau Zegelin sprechen, sie und ich haben sie uns eben gerade angesehen, aber eben noch schnell eine andere Frage: Warum wurde die Pflege unendlich reduziert?
Die Pflege vom Menschen, sagt Zegelin, wird heute nur noch als Aneinanderreihung von Verrichtungen gesehen. Was nicht mehr gesehen wird, ist, dass der, der da gepflegt wird, ein Mensch ist. Der Gedanke, dass die Pflege den Menschen in den Mittelpunkt nehmen soll, ist kein neuer, so etwas wurde schon vor Jahrzehnten in den Pflegeschulen des Landes gelehrt.
Die Schüler hörten in den Schulen von Dingen wie Emphatie, Bezugspflege und Ressourcenförderung des Pflegenden und fühlten sich gut vorbereitet. Und in der Praxis wartete dann der Permanentzustand Hase im Rennen von Hase und Igel.

Keine Zeit, zu wenig Stellen, zu viele Patienten, dazu Schriftkram, das war in der Krankenpflege schon wüst und die Altenpflege, das war so etwas wie die hässliche Schwester auf Speed im Keller, kurz vor dem Aufbahrungsraum. In die Altenpflege wollte schon damals, in den 90ern, kaum jemand. Nicht wegen der Arbeit mit Menschen, sondern wegen der Umstände.
Für Frau Zegelin ist es an dieser Stelle wichtig, hier einzufügen, dass das zwar prinzipiell richtig sei, aber eben auch sehr negativ. Man müsse doch auch das Positive sehen, die besondere Herausforderung, mit lebenserfahrenen Menschen arbeiten zu können und dadurch eine Befriedigung zu erfahren.
Aber die Arbeitsbedingungen sind nicht besser geworden in den letzten 20 Jahren. Natürlich sei die Pflegeversicherung schuld, sagt Zegelin. Normierung von Arbeitsschritten, Pflegestufen, die -ungs aus Verrichtung und Aneinanderreihung. Man kann das vielleicht die Vermessung der Menschlichkeit nennen.
Aber das Gejammer über die Arbeitsbedingungen kann ja auch keiner mehr hören und wenn Menschen in einer Industrie Teil von etwas werden, machen sie sich ja auch immer gemein mit etwas. Du bist, was du machst. „Bei der Pflege“, sagt Zegelin, „reden alle mit – nur nicht die Pflegenden selbst. Die Pflege ist fremdbestimmt und lässt sich das gefallen.“
Zegelin wünscht sich eine Lobby, einen Organisationsgrad etwa wie in Schweden, der liege bei annähernd 100 Prozent und bei den letzten Gehaltsverhandlungen, da sei es in Schweden zum Generalstreik gekommen und am Ende habe ein Lohnplus von 20 Prozent gestanden. In Deutschland seien 7 Prozent der Pflegenden organisiert.
Damit kann man natürlich keinen Krieg gewinnen im Schlachtfeld Gesundheitswesen, in dem man sich Krankenhäuser als Festungen vorstellen kann und Klinikdirektoren als kleine Offiziere und Versicherungen als hochdekorierte Generäle und Pharmaunternehmen als Könige.
Wenn man sich die Gesundheitsbranche mal tatsächlich als mittelalterliches Schlachtengemälde denkt, dann wäre es ein wildes Durcheinander, jeder gegen jeden, ein Hauen und Stechen mit vielen Toten und die Pfleger wären vermutlich die Bauern. Die hat im Mittelalter auch keiner gefragt, wie sie ihr Leben lieber gestalten würden, obwohl sie die Mehrheit stellten.
Fast eine Million Menschen arbeiten in der Pflege, sagt die Wissenschaftlerin. Was für eine riesige Menge Menschen! Wenn die mal alle zusammen aufständen, was da los wäre! In Frankreich würde vermutlich Paris niederbrennen. Stattdessen brennen hier die Menschen aus.
Die Branche wird in den nächsten Jahren weiter wachsen. Die Menschen werden älter, aber pflegen will kaum noch jemand, wenn er nicht muss. Schätzungsweise zwei Drittel der Auszubildenden haben inzwischen einen Migrationshintergrund.
Die Pfleger sind aber nur die eine Seite der Medaille, die anderen sind die, die gepflegt werden. Schnellschnellschnell, Zeit ist Geld und jeder gesparte Handgriff ist wichtig und das ist zum Beispiel ein Grund, warum Rollstühle in Altenheimen beliebt sind. Die Menschen sind so schneller zu bewegen, auch wenn sie sich selbst nicht bewegen.

Zegelin hat eine Doktorarbeit geschrieben, der Titel ist: Immobilität im Altenheim vermeiden. Sie hat in dieser Arbeit 20 Faktoren ausgemacht, die Bettlägerigkeit in Heimen verursachen und die vermieden werden müssten. Faktor 1 ist: Schwäche durch Liegenbleiben. Letztlich muss der Mensch am Laufen gehalten werden. „Der Rollstuhl ist der Anfang vom Ende.“
Aber wofür bewegt sich ein Mensch von alleine? Er braucht, so Zegelin, dafür einen Anreiz. Etwas, wofür es sich lohnt, am Ball zu bleiben, aufzustehen. Einen Beweggrund im Wortsinn. Warum soll einer, der im Leben nicht gesungen hat, nachmittags „Guten Abend, gute Nacht“ mitsummen wollen. Oder Gymnastik machen. Oder so. Nur weil ein Mensch alt geworden ist, heißt das ja nicht, dass er an nichts mehr Interesse hat. Es muss halt nur das richtige Angebot sein. Etwas, was sich für ihn lohnt.
Zegelin hat damals, als sie auf dem zweiten Bildungsweg unterwegs war, einen Ausgleich in den Abendstunden gebraucht. Und ihn, warum auch immer, in kleinen Faller-Häuschen gefunden. Die, die man für Modelleisenbahnen selbst bauen kann. 25 pro Jahr hat sie abends zusammengebastelt und ihr erster Ehemann hat dann irgendwann eine HO-Eisenbahn drumrum gebaut. Der Ehemann starb, die Bahn blieb, in den letzten Jahren eingemottet und jetzt kommt sie im Seniorenwohnpark zu neuen Ehren. Die Leitung dieser Einrichtung heißt Sybille Poreda und wurde damals, als Schülerin, von Zegelin ausgebildet.
Ein gut geführtes Haus sei das, sagt Zegelin, was man auch daran sehen könne, dass es im Eingangsbereich Tiere gibt. Und hinten im Garten habe es Ziegen. In anderen Altenheimen gebe es Tierverbote wegen möglicher Allergien der Bewohner. Und noch etwas ist hier besonders: 40 Prozent der Bewohner seien Männer, das sei ungewöhnlich viel. Sonst sei ein Schnitt von 15 Prozent die Regel.

Zegelin

Herr Haering, Frau Zegelin und Frau Schreitz-Klein (Pflegedienstleiterin).

So kam die Bahn hier hin. Der Gedanke hinter der Bahn ist, dass diese Modellbahn doch ein Anreiz sein könnte, aufzustehen. Ein Bekannter von Frau Zegelin, Herr Haering, baut sie gerade hier auf, seit anderthalb Wochen schraubt er rum, eine wird er wohl noch brauchen und dann soll es einen Vorstellungsabend geben. Wer will, kann kommen und wer die Begeisterung noch in sich hat, kann dabeibleiben als Mitglied in einem Modellbahnklub. Die Bahn fahren lassen, über sie sprechen, über Reisen und Erinnerungen. Ein Reizpunkt, etwas eigenes, das Freude bereitet. Wofür man aus dem Stuhl aufsteht.

Das kann nur ein Baustein sein, na klar, aber aus vielen Steinen kann man etwas bauen und der nächste Stein, den Zegelin plant, ist ein Playboy-Klub. So eine Art Herrenzimmer mit der namensgebenden Zeitschrift, die ausliegt. Rein kommt, wer im Klub ist.
Aber das ist Zukunftsmusik. Jetzt muss erst einmal der Eisenbahnerklub ins Rollen kommen. Um die Sache mal auf ein anderes Gleis zu setzen.

 

 

(Ich habe Ende der 90er eine Krankenpflegeausbildung gemacht.)

Männer, die aufs Wasser starren

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Man kann sich das Leben als Fisch im Buschmühlenteich im Westfalenpark recht kommod vorstellen. Futter satt, wenn man Friedfisch ist. Was die Enten an Futter bekommen, mögen auch die Fische. Futter satt, wenn man Raubfisch ist, die Friedfische stehen ja gut im Saft. Nur an drei Tagen im Jahr, da ist man als Fisch besser auf der Hut: Beim Hegefischen im Westfalenpark. 

Punkt eins: Das hier ist offenkundig eine Männersache. Keine Frau weit und breit zu sehen am Samstag um sieben Uhr morgens am Buschmühlenteich im Dortmunder Westfalenpark.

Womit wir bei Punkt zwei sind: Angeln ist was für Frühaufsteher. So 15 Mann sind es, die in Position gegangen sind. Ein Nachzügler kommt so gegen 7.30 Uhr den Hügel runter, Angeltasche, roter Klappstuhl, muss er schauen, wo er Platz findet. Gibt‘s zwar noch genug, aber so eine Platzwahl, das ist ja schon die halbe Miete. Wenn sie gut ist. Was man nur leider nicht vorher weiß. Erfahrungswerte sind schwer bei so einem Teich, den man nur dreimal im Jahr befischen darf. Vorausgesetzt, man zahlt 12 Euro und hat, wir sind hier in Deutschland, den gültigen Jahresfischereischein.
Wer Erfahrungswerte braucht, kann Eugen fragen. Unter Anglern duzt man sich, daher nur der Vollständigkeit halber: Eugen heißt Eugen Krüger, ist Fischereiberater der unteren Fischereibehörde und hier und heute dafür zuständig, dass alles seine Ordnung hat. Eugen und sein Spezi Roland bummeln so um acht um den Teich und lassen sich die Papiere zeigen. 20, vielleicht 30 Jahre, prüft Eugen hier die Karten und heute, da sei es eigentlich noch leer. „Können auch mal 30 Mann hier sein.“

Eugen fischt ja am liebsten in Alaska, einmal nur wollte er dahin. „Und, was sagt die Frau dazu?“ „Die ist schon 20 Jahre lang tot.“ Die erste Frau dagegen ist ihm abgehauen. Irgendwann habe sie ihn gefragt, ob sie oder das Angeln wichtiger sei. Mit der Antwort konnte sie dann wohl nicht leben, jedenfalls war Eugen jetzt schon achtmal in Alaska.

Der Buschmühlenteich ist nicht ganz das gleiche, aber als Angler in Dortmund lebt man wie ein Durstiger in der Wüste: Hat halt wenig Wasser hier. Der Kanal, ja gut, aber Kanalfischerei ist eher was für Experten. Im Süden bei Schwerte die Ruhr, da hört man fangmäßig auch wenig Gutes von. Im Phoenix-See gilt ein Angelverbot, in der Hallerey auch, Naturschutzgebiet. Und im Teich im Revierpark Wischlingen haben sie vor 30 Jahren mal Welse eingesetzt. Tut keinem kleinen Gewässer gut, der Wels, der frisst nämlich alles andere, was Flossen hat. Und hört erst so bei um rum zwei Meter auf, zu wachsen.
22 Pfund habe der größte Hecht hier im Buschmühlenteich gehabt, sagt Eugen. Da lacht zwar jeder Wels drüber, aber für einen Hecht ist das schwer in Ordnung. Karpfen würden hier ähnlich schwer und einmal habe einer eine Schnappschildkröte gefangen. Mit den Tieren ist nicht zu spaßen, „die beißen dir den Finger durch, mit einem Biss.“ Die Schildkröte sei dann in den Zoo gebracht worden. Die Fische, die sie hier fangen, nehmen die Angler mit. Heißt ja Hegefischen, die Fische sollen aus dem Wasser, weil es sonst zu viele werden.
Eugen macht sich jetzt mal selbst ans Werk. Sehen, was der Hecht so treibt. Und Roland kommt ins Plaudern. Wie das damals war, Bundesgartenschau und Fernsehturmbau und wie er als Steppke genau hier mit einer von diesen großen Sicherheitsnadeln und nem Faden seinen ersten Karpfen gefangen hat. „Schwarz gefischt“, also ohne Schein, aber welcher Knirps hat so nicht angefangen? Und wie damals die Fontänen im Teich zur Musik hoch oder flach emporspritzen. Die Reste von der Fontänenanlage, die sei dahinten noch im Wasser. Roland schaut, wie er so erzählt, auf den Teich und man bekommt eine Idee von der Faszination, die das Angeln ausmacht. Draußen sein, was zu tun haben, ein Ziel vor Augen und genug Zeit, die Gedanken kreisen zu lassen. Sich selbst genug sein. Ein wenig so, wie in ein Feuer zu starren. Nur nasser. Und heute mit mehr Entenkacke, die liegt inflationär um den Teich herum.

Die Kanadagänse und anderes Geflügel haben sich an die andere Uferseite verzogen, dorthin, wo die Äste übers Wasser ragen und wo man eigentlich fischen müsste, weil die Fische dort die besseren Versteckmöglichkeiten haben. Es ist beim Angeln wie im Leben: Das Gras ist immer grüner auf der anderen Seite.
Zu wechselhaft sei das Wetter gewesen, heißt es am Ende des Angel-Tages gegen 13 Uhr, groß gefangen wurde nichts. Ein Karpfen kam an Land, ein paar Brassen, naja und verbuttete Rotaugen. Kein Hecht. Fische würden besser bei konstanten Wetterlagen beißen, das ist so eine von gefühlten fünftausend Regeln, die in irgendwelchen Ratgebern stehen. Fraglich, ob die Fische sie auch gelesen haben.
Nächstes Mal vielleicht, gibt ja noch zwei Hegefischtermine im Jahr. Von 7 bis 13 Uhr. Mit Eugen und Roland. Vielleicht auch mit mehr Fisch.

Das ist auch so eine Regel: Jeder Tag ist Angeltag, aber nicht jeder Tag Fangtag.

Und eine noch: Besser ein schlechter Tag am Wasser als ein guter im Büro.

 

Die nächsten Termine  (voraussichtlich): 28. August (Sonntag) und 18. September (Sonntag).
Karten kosten 12 Euro (Jugendliche 6), sie können am Eingang Florianstraße bei Vorlage eines gültigen Jahresfischereischeins gekauft werden.

 

 

Where the Möwen schreien

Oben, im Norden, sechs Stunden mit dem Wagen entfernt, liegt die wunderbare Insel Fünen. Sie haben dort schöne Strände, leckeres Gebäck, eigenes Bier, morbide Bäume und Meerforellen.

Letzte Woche war ich wieder mal da. Home is, where the Möwen über deinem Kopf schreien.Habe ich auf Twitter bei @teemitalaska gelesen. Der Mann hat recht.

 

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